Flugpause

„Wenn ich fragen darf – was tun Sie hier?“, erkundigte sich der junge Mann im sauber geknöpften Anzug, der für die Dauer der Mittagspause den Büroturm verlassen hatte, um sein Wurstbrot in der milden Frühlingssonne zu genießen.

Der semmelblonde, geflochtene Zopf der Frau fiel über ihre Schulter, während sie mir dem Kinn auf die Band wies, die auf der Wiese des Stadtparks spielte. Das Blut des Vogels tropfte auf ihre Bluse. 

„Ich höre die Musik. Sie ist schön“, erklärte sie heiter, pulte sich mit dem Finger ein im Mundwinkel klebendes Knöchelchen ab, das sie sorgsam an die Lehne der Bank klebte. Ein zweites Knöchelchen folgte.

„Ich meine … warum essen Sie den toten Spatzen? Das ist doch eklig“, sagte der junge Mann vorsichtig, “bei uns in der Bank würden Sie sicherlich keinen Kredit bekommen, wenn das einer sähe.“

„Das macht nichts,“, sagte die Frau, „ich brauche keinen Kredit – der Krieg hat mich frei gemacht. Wissen Sie, ich brauche nicht, denn ich bin jetzt allein – mein ältester Bruder wurde auf dem Schlachtfeld von Bomben zerfetzt, ohne dass es ihn interessiert hätte, wofür sie dort kämpften; mein mittlerer Bruder starb, ohne einen anderen Wunsch als wegzurennen,und der Jüngste wurde von der Granate getötet, die in unseren Keller fiel, grad neben mir, aber ich überlebte, ich weiß nicht, warum. Das ist ein Zeichen des Himmels, ich hüte das bisschen Erinnerung und bin zur Freiheit geboren, deshalb esse ich sie, die Zeichen der Freiheit, die hoch an den Himmel gehören und in die freie Luft.“

Unsicher sah der Angestellte auf den halbierten, gefiederten Körper, den sie ihm auffordernd hinhielt, suchte nach Worten und hob sein Wurstbrot. 

„Das tut mir ja alles sehr Leid, aber wissen Sie, bei unzertifiziertem Fleisch wie diesem weiß man doch nicht, ob es wirklich verdaulich ist – mein Wurstbrot ist mir da lieber, vielen Dank“, und biss herzhaft ab, in der frohen Gewissheit, dass die Mittagspause gerade rechtzeitig beendet sein würde und ihn geordnete Verhältnisse erwarteten statt so etwas … Unverdaulichem.

Der Sammelblog für die abc.etüden gehört Christiane

7 Comments

    1. Das ist eine doppeldeutige Ebene.Einerseits, was für Dreck er alles runterfrisst (als ddurchschnittlicher konsument) und zweitens, dass er sich um so was kümmert, während mit Menschen und der Freiheit alles Unmögliche geschieht.

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