Im Nebel Licht

Das Lesezeichen, das Liane zwischen ihren Fingern spürte, war ein fein geflochtenes Lederband. Sie legte es in den Folianten auf ihren Knien. Der Geruch des dicken Papiers erfüllte sie mit Ruhe.

Wie vertraut ihr dieses Buch war, jetzt, wo Nebel die Welt erfüllte. Ihre Hände umfassten den Einband.

»Liest du mir vor?«

Der Kinderkopf neigte sich über das Buch. Die Kleine studierte die Seiten, dann sah sie auf.

»Deine Buchstaben sind komische Schnörkel.«

Die zarte Gestalt war in Dunst gehüllt, wie das Zimmer und der Fensterahmen. Ob die alten Weiden am Fluss noch immer ihre altersschwachen Zweige in die Strömung tauchten? Wenn sie doch hingehen könnte! Die Hände ins Wasser halten, wie damals, als die Sonne noch schien und ihr die Beine gehorchten.

Jetzt war die Kleine ihre Sonne! Eine quirlige Sonne, die den Kopf schief legte.

»Wenn du so nach draußen schaust, dann bist du eine richtige Seherin mit deinen geheimnisvollen Augen und dem weißen Haar«, plapperte das Kind. »Das sagt Mia auch. Und dass deine Geschichten viel besser sind als die im Lesebuch.«

»Kannst du in meinem Buch lesen?«, fragte Liane.

Die Kleine schüttelte den Kopf. »Nein!«

Sie hüpfte durchs Zimmer.

»Wir lernen andere Buchstaben. Warst du auch in der Schule?«

Liane lächelte.

»Damals, im Morgenglanz, als die Welt jung war, lernte ich lesen. Und jetzt erzähle ich dir meine Geschichten.«

Wie ein Schwamm sog das Kind jedes Wort in sich hinein.

Sie kniff die Augen zusammen. Waberten Gestalten im Nebel, die ihr mit weißen Händen winkten?

»Erzählst du mir vom Pythagoras, Urgroßmutter?«, fragte die Kleine.

Liane streichelte das altgriechisch geschriebene Mathebuch.

»Ich erzähle dir von der Nebelfrau, die im Wasser den Cosinus fand, das Rätsel des Fisches löste und im Schwung der Kurve den Tropfen des Neubeginns barg.«

Könnte sie ihre Urenkelin einmal nur genau sehen! Wie schön, dass die Kleine ihren grenzenlosen Durst nach Wissen teilte.

»Es war einmal …«

Diese mühsam runtergekürzte abc-Etüde enthält die Wörter „Lesezeichen, alterschwach, hüpfen“. Der Sammelblog ist hier. Wer mag, kann auch den ungekürzten Text lesen:

Das Lesezeichen, das Liane zwischen ihren Fingern spürte, war ein fein geflochtenes Lederband. Sie legte es in den Folianten, der auf ihren Knien ruhte. Der Geruch des dicken Papiers erfüllte sie mit Ruhe.

Wie vertraut ihr dieses Buch war, gerade jetzt, wo Nebel die Welt erfüllte. Ihre Hände umfassten den Einband.

»Liest du mir vor?«

Der Kinderkopf neigte sich über das Buch. Die Kleine studierte die Seiten, dann sah sie auf.

»Deine Buchstaben sind komische Schnörkel.«

Dunst umhüllte die großen Augen, die zarte Gestalt. Liane richtete den Blick aufs Fenster. Sie konnte den Rahmen erkennen. Ob die alten Weiden am Fluss noch immer ihre altersschwachen Zweige in die Strömung tauchten? Wenn sie doch hingehen könnte! Die Hände ins Wasser halten, so wie damals, als die Sonne noch schien und ihr die Beine gehorchten.

Jetzt war die Kleine ihre Sonne! Eine quirlige Sonne, die den Kopf schief legte.

»Wenn du so nach draußen schaust, dann bist du eine richtige Seherin mit deinen geheimnisvollen Augen und dem weißen Haar«, plapperte das Kind. »Das sagt Mia auch. Und dass deine Geschichten viel besser sind als die im Lesebuch.«

»Kannst du in meinem Buch lesen?«, fragte Liane.

Die Kleine schüttelte den Kopf. »Nein!«

Sie begann durchs Zimmer zu hüpfen.

»Wir lernen andere Buchstaben. Warst du auch in der Schule?«

Liane setzte ein verheißungsvolles Lächeln auf und hob die Hand.

»Damals, im Morgenglanz, als die Welt jung war, lernte ich lesen. Und jetzt erzähle ich dir meine Geschichten.«

Wie ein Schwamm sog die Kleine alles in sich hinein, merkte sich jedes Wort. Das war gut, denn ihr eigenes Gedächtnis war schwach geworden.

Sie kniff die Augen zusammen. Waberten Gestalten im Nebel, die ihr mit weißen Händen winkten?

»Erzählst du mir vom Pythagoras, Urgroßmutter?«, fragte das Kind.

Liane streichelte das Mathebuch, dessen altgriechische Zahlen seit langem vor ihren Augen verschwammen.

»Heute erzähle ich dir von der Nebelfrau, die im Wasser den Cosinus fand, das Rätsel des Fisches löste und im Schwung der Kurve den Tropfen des Neubeginns barg.«

Wie gern würde sie ihre Urenkelin ganz genau sehen, ein einziges Mal nur! Doch sie konnte zufrieden sein, dass die Kleine ihren grenzenlosen Durst nach Wissen teilte.

»Es war einmal …«

13 Comments

  1. Wunderschön und zauberhaft. Möge es nie so sein, dass die Naturwissenschaften zu Märchen werden. Oder doch? Was für eine Gesellschaft müsste das sein?
    Die längere Geschichte finde ich runder, und die kürzere ist zwar gelungen, aber, Entschuldigung, immer noch zu lang („Christiane schimpft!“). Ich finde das Kürzen hier allerdings wirklich schwierig und undankbar, von daher bitte nicht falsch verstehen.
    Liebe Grüße
    Christiane

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    1. Dankeschön! Jaaaa, immer noch bisschen zu lang, aber weniger zu lang als vorher (*zwinker*).
      Märchen enthalten tiefe Wahrheiten, die sie vermitteln … warum nicht Naturwissenschaften vermitteln. Tolkiens Tom Bombadil aus „Herr der Ringe“ (dem Buch, im Film fehlt er völlig) verkörpert auch die Naturwissenschaften.
      Der Kollege Mathrlehrer hat mir übrigens erklärt, dass Mathe eine reine Geisterwissenschaft ist.

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      1. „Geisterwissenschaft“?!?! 😀
        Ja, ich glaube, dass man, wenn man nur in Schule Mathe hatte, davon einen völlig falschen Eindruck hat. Ich habe erst viel später staunend gelernt, dass Mathematik viele Berührungspunkte mit Linguistik und Musik hat …
        Ich kann verstehen, warum Bombadil im Film fehlt, aber warum verkörpert er die Naturwissenschaften?

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