Romeo und Julia – Frau und Mann in ganz verkehrter Welt

Irgendwann nach „Der Widerspenstigen Zähmung“ begann Shakespeare, Gelingen und Tragik um den Charakter seiner Heldinnen zu entwickeln. Nun, Julia scheitert und lebt doch von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter. Im elisabethanischen  Theater spielten sowieso nur Jungs die Frauenrollen, später war Julia brav und verliebt. In der modernen Verfilmung wie von 1996 mit de Caprio wurde die Originalsprache um eine ganz eigenständige Symbolik und Rollengestaltung ergänzt. Moderne Interpretationen können leicht auf dem Originaltext aufgebaut werden: Es geht um den Grundcharakter der beiden und ihre Konflikte.

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Romeo und Julia sind jung und verlieben sich inmitten einer verkrusteten Clanfeindschaft, die man mit erbittertem Eifer weitertreibt. Keiner kennt mehr die Gründe, aber gestritten wird weiter auf Kosten des Lebens. Frauen spielen in dieser Welt nur als verfügbares Gut eine Rolle, selbst wenn Julias Vater ihr einen guten Ehemann aussucht und ihr Zeit lassen will. Sie ist erst dreizehn. Doch die Mutter will die gute Partie. Julia geht voll Vorfreude auf den Maskenball, um ihren Zukünftigen zu treffen: ihr Wille und die Planung der Eltern sind eins, sie ist eine glückliche Tochter. Dann trifft sie Romeo und wird in einem Augenblick zur Frau.

Die beiden beginnen unmittelbar, einander im Gespräch mit Worten zu umfangen und zu küssen. Bis die Mutter rufen lässt und Julias Amme erst ihn, dann sie darüber aufklärt, in wen sie sich verliebt haben: in den einzigen Sohn, die einzige Tochter des Erzfeinds. Cousin Tybalt tobt wegen Romeos Einschleichen – vom Küssen weiß er nichts, doch Julias Vater, der vom Küssen auch nichts weiß, würdigt seinen guten Ruf, erinnert sich an den eigenen jugendlichen Übermut und lässt ihn bleiben. Tybalt, der Katzenprinz, wird sich rächen.

Der Mann Romeo geht, die Frau Julia bleibt daheim, doch er schleicht sich in ihren Garten und spricht im Dunkel der Nacht über seine Gefühle (II,2). Seine Sprache ist voll Poesie, ganz anders als die der übrigen Männer. Julia erscheint auf dem Balkon, auch sie spricht in die Nacht. Sie erklärt ihre Liebe, möchte ihm den Namen nehmen, der Feindschaft bedeutet: „’Tis but thy name that is my enemy. Thou art thyself“ ihren eigenen ablegen, „I’ll no longer be a Capulet“ und ihm statt des Familiennamens sich selbst geben: „And for that name, which is no part of thee, take all myself“. Es geht von Anfang an um sie selbst, und Julia behält die Initiative. Romeo zieht mit: Er fühlt sich neu getauft und vergleicht ihren Blick mit Schwertern. Sie bittet Romeo, ihr zu sagen, dass er sie liebt, sie schlägt die Heirat vor. Wer ist denn nun der Mann?

Hilfe für ihren eigenen Weg finden die beiden am klassischen Ort der Selbstfindung abseits vom Druck der Gesellschaft: dem Kloster. Dort treffen sie sich, dort heiraten sie, weil Bruder Lawrence die Familien versöhnen möchte, hier besprechen sie ihre Pläne, aus der Katastrophe zu entkommen, zeigen ihre Verzweiflung: Romeo dreht durch wie ein hysterisches Mädchen, als er verbannt wird. Bruder Lawrence leitet alles in die Wege, und als der Plan scheitert, folgt er ihnen besorgt ins Grab, in dem sie sterben. Julia tut, was sie tun muss, er aber flieht voll Angst. Später bezeugt er ihre Geschichte vor der Nachwelt, den Eltern, die endlich das tun, was von Anfang an fällig war: sich versöhnen. Die Liebenden stellen sie als Statue auf, aus reinem Gold sogar. Wovon sie ganz sicher nichts haben. Was ist der Grund für ihr Los? Star-crossed lovers oder Opfer einer verdrehten Gesellschaft? Es gibt genug Gründe, zweiteres anzunehmen. Jeder zieht sein eigenes Ding durch und alles läuft schief.

Julias Ehe ist zuende, als Romeo verbannt wird – vor den Menschen, doch nicht vor Gott. Sich selbst und ihre Liebe, ihre Werte will sie nicht aufgeben. Sie ist bereit, durch einen Trank in einen todesähnlichen Schlaf zu fallen, um zwischen den blutigen, modernden Leichen der Familiengruft aufzuwachen. Sie verlässt die Welt und ihre Eltern für ein neues Leben, geht ins Totenreich.

Leider werden in diesen Schattenzonen Gedanken wahr. Romeo denkt, sie sei tot, der Bote erreicht ihn nicht und aus dem vorgetäuschten Begräbnis wird ein echtes. Denn Romeo hat von einem anderen Opfer der Gesellschaft, einem verarmten Apotheker, echtes Gift gekauft. Er geht zu Julia, um sich zu töten. Vor der Gruft trifft er Paris, der seine tote Braut mit Blumen bestreuen will. Paris erkennt einen frechen Montague und glaubt, er wolle das Grab entehren. Sie fechten und Romeo tötet ihn. Doch ist sein Zorn zuende: er entspricht Paris‘ letztem Wunsch, trägt ihn ins Grab und legt ihn neben ihrer beider Braut. Dann nimmt er sein Gift und stirbt.

Erst jetzt trifft Bruder Lawrence ein und Julia erwacht. Die Diener haben Hilfe geholt, Leute kommen. Bruder Lawrence drängt auf Flucht, doch Julias einziges Interesse gilt den Tropfen Gift, die noch im Becher sein könnten, welchen die Lippen des Geliebten eben berührt haben. Er ist leer. Sie stirbt nicht durch Gift, die klassische Methode der Frauen, sondern zieht Romeos Dolch und ersticht sich, um ihm zu folgen. Aus dem Grab geht sie ins Jenseits. Vor ihren Leichen, ebenfalls im Grab finden die Eltern, findet die Gesellschaft zu einem neuen, lebensfreundlicheren Gleichgewicht – zu spät. Deshalb lebt das Problem weiter und lebt fort in Generationen um Generationen von Rezipienten. An sie ging die Aufgabe weiter, sich mit den ungelösten Problemen zu beschäftigen: Der Selbstfindung, dem neuen Leben innerhalb des verkrusteten Alten, widerstreitenden Gefühlen, Frausein, Mannsein und der Treue zu Werten und Menschen, die auch in der heutigen Gesellschaft zu wünschen übrig lassen.

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